Kreativität durch Zufall. Das große Vorbild der Evolution und einige künstlerische Parallelen

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Wolfgang Welsch: Kreativität durch Zufall. Das große Vorbild der Evolution und einige künstlerische Parallelen. In: Kreativität - XX. Deutscher Kongreß für Philosophie, Kolloquienbeiträge (Hamburg: Meiner 2006), 1185-1210.

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Abstract

Der Kongreß widmet sich dem Thema der Kreativität. Dieses Kolloquium fragt nach "Kreativität und Kunst". Man mutmaßt, Kunst sei "ein Paradigma von Kreativität". In der Tat gilt die Kunst herkömmlicherweise als eine ausgezeichnete, manchmal sogar als vorbildliche Sphäre von Kreativität.

Ich habe mich jedoch gefragt, woran unter der Perspektive der Kreativität zuallererst zu denken wäre. Was ist das kreative Prinzip schlechthin oder die genuinste Sphäre von Kreativität? Da fällt mir - trotz Leonardo, Picasso etc. - nicht als erstes die Kunst ein. Sondern die Ursprungssphäre aller Kreativität, denke ich, ist die Evolution - die kosmische und biologische Evolution. In ihrem Verlauf ist alles entstanden: der Kosmos, die Erde, das Leben, wir selbst. Noch die menschliche Kreation zehrt von den Ergebnissen der Evolution, nimmt sie auf, setzt sie mit menschlichen, inbesondere kulturellen Mitteln fort. Und vielleicht gilt sogar mehr: Vielleicht ist die menschliche Kreativität nicht nur eine Fortsetzung dieser großen Evolution, sondern schlicht ein Teil ihrer - der hier mit menschlichen Mitteln erfolgende Teil derselben, so wie sie andernorts mit nicht-menschlichen Mitteln weitergeht.

Das legt die Frage nahe, ob wir für das Verständnis der menschlichen Kreativität nicht von der Kreativität der Evolution etwas lernen könnten oder gar müßten. Bestehen strukturelle Homologien? Und beachten wir diese gemeinhin zu wenig, so daß ihnen nachzudenken lohnend sein könnte?

Ein Einwand liegt auf der Hand: Die Prinzipien der menschlichen und der evolutiven Kreativität sind typischerweise verschieden. Die menschliche Kreativität operiert mit Intentionen und großenteils im Bereich der Zweckrationalität. Genau dies aber gilt für die Evolution nicht. Sie operiert weit eher mit dem Prinzip des Zufalls.

Dieser Unterschied ist unübersehbar und nicht zu minimieren. Dennoch, so meine Vermutung, könnte die Aufmerksamkeit auf die Rolle des Zufalls in der Evolution uns zu einem besseren Verständnis auch der menschlichen Kreativität - und zu Korrekturen in unserer Praxis von Kreativität - verhelfen.

Die Grundidee meiner Ausführungen ist die folgende: Das intentionale, das zielgerichtete Handeln stößt gelegentlich an Grenzen, ja es verrennt sich - gerade als intentionales - in Sackgassen. Aus diesen könnte das Bewußtsein der produktiven Rolle von Zufällen herausführen. Dafür bietet gerade die Kunst Beispiele. Und so schränke ich das soeben umrissene Generalthema im Folgenden, was die menschliche Kreativität angeht, auf die Kunst,2 und was die Evolution angeht, auf die biologische Evolution und noch spezieller auf den Aspekt der Zufälligkeit ein.

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